Wir stehen heute hier und sind sprachlos. Sprachlos weil Krieg in Europa herrscht. Eine Situation, die für meine Generation surreal wirkt. Wir kennen Krieg in Europa nur aus Erzählungen der Älteren. Wir kennen Krieg nur aus der Schule. Fakten, Daten und Interaktionen, die man lernt, um sie dann in Prüfungen wiederzugeben. Ohne Emotionen, ohne Ängste der Betroffenen – in Büchern beschriebenes Leid, dass so fern klingt. Wir haben gelernt welche Aktion zu welcher Gegenreaktion von Machtinhabern geführt hat. Das menschliche Leid, die einzelnen Schicksale blieben außen vor.
Wir kennen Erzählungen von unseren Eltern und Großeltern, die Selbsterlebtes schildern. Wir kennen Bilder aus längst vergangen Kindheitstagen, die wir damals nicht einschätzen konnten, kennen Sirenen nur aus Übungen und Krieg nur aus dem Fernsehen aus weit entfernten Ländern. Wir sind behütet aufgewachsen in unserer Welt voller Frieden, unserem Europa voller Frieden. Und jetzt sehen wir Menschen, deren Welt von heute auf morgen buchstäblich in Trümmer liegt. Menschen, die von einer Großmacht bedroht werden und voller Angst in ihre Zukunft blicken. Wir sehen Menschen vor ihrem in Trümmer liegendem zu Hause. Menschen, die aus Angst um ihr Leben in U-Bahnstationen kauern. Menschen, die aus ihrer Heimat, ihrem zu Hause fliehen müssen. Und wir sehen Menschen- Zivilisten wie Sie und ich- die verletzt oder gar getötet werden. Ja, wir sehen Menschen. Und das macht sprachlos. Für mich, als angehörige einer Generation, die solche Situationen hauptsächlich nur aus der Retrospektive, als Analyse von Machtspielereien kennt, wird bewusst, wie schnell sich der schicksalhafte Frieden ändern kann.
In den letzten Tagen lief mir beim Einschalten des Fernsehers ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Da gab es ein Bild eines jungen Paares, das sich weinend in den Armen lag. Eine Lehrerin, die mit Blut im Gesicht in die Linse der Kamera schaute. Junge Familien mit kleinen Kindern an der Hand, die aus ihrem Wohnhaus flohen, in das Mitten in der Nacht eine Bombe einschlug. All das sind Menschen, die ihr Leben in Frieden verbrachten. Menschen wie Sie und ich. Sicherlich wird auch der Krieg in der Ukraine in die Geschichtsbücher meiner Kinder eingehen. Mit seinen Daten, Fakten und der Analyse von Aktionen und
Gegenreaktionen. Dort wird es sicherlich keinen Verweis auf einzelne Schicksale, auf Ängste und Verzweiflungen geben. Und ich hoffe, dass meine Kinder ebenso wie ich in Frieden aufwachsen können. Dieses Recht steht allen Menschen zu. Ebenso wie das Recht, dass ihre Geschichte zählt. Das Recht gehört zu werden. Und vor allem das Recht auf Frieden und körperliche Unversehrtheit. Wir alle die heute hier sind, sind sprachlos. Sprachlos weil Menschen wie Sie und ich ihr Recht auf Frieden genommen bekommen haben.
Lisa Dorn
Fraktionssprecherin
Bündnis’90/Die Grünen